Zu dieser hier hätte ich eine weitere in der Hirnrinde...
True Colours
Er kniff leicht die Augenbrauen zusammen.
Sein Studio, sein Leben, lag in einer kleinen Seitenstrasse, aber dank des legendären Rufes schneite zwischendurch auch einmal diese Art von Kundschaft herein. Jung, chemikalblond, kichernd und in grellen Farben leuchtend.
Ja, auch das gehörte dazu... er tippte auf ein niedliches nicht zu grosses Piece am Bauch oder auf der Hüfte- Rose, Schmetterling, Delfin? Egal, sie war eine Kundin und er würde auch ihr das Tattoo ihrer Träume stechen, das war er "True Colours" schuldig.
Die Kleine war -natürlich- mit ihrer Freundin da und gemeinsam blätterten sie in den zahlreichen Vorlagebüchern.
Er starrte aus dem Fenster.
Seine Gedanken schweiften ab. Wenn die Mädels wüssten, was es mit seiner Nadelkunst auf sich hat, würden sie wahrscheinlich unter ihrem perfekten Make-up verblassen und sich verdrücken.
Er hat schon früh gespürt, welch altes Blut in ihm kreiste und hatte eine vage Ahnung, welche Macht das bedeutete. Die Grosseltern seiner Mutter gehörten zum fahrenden Volk, sein Vater war Sohn einer Maori.
Von welcher Seite er die Fähigkeit geerbt hatte, in die Menschen zu schauen, Schicht um Schicht zu durchwandern, bis er zu den geheimen Sehnsüchten und ureigenen Bestandteilen vordrang. Seine Kunden sahen die dunkle Brille, die er stets trug, als einen persöhnlichen Spleen oder die Attitüde des Künstlers an. Nur der eine Mensch, der ihm als junger Mann geholfen hat, seine Gabe zu verstehen, wusste, wozu das monströse, getönte Ding diente.
Um besser in den Menschen lesen zu können, schloss er die Augen und versenkte sich in die verschiedenen Ebenen, bis er genau das Bild fand, was seinen Kunden unendlich glücklich machte- auch wenn der keine Ahnung davon hatte, dass er es in sich barg.
"Wenn ich ein Pferd gestalte, schlage ich einfach alles vom Stein weg, was kein Pferd ist". Wer sagte das, Michelangelo? Whoever, im Prinzip arbeitete er nach der gleichen Methode, enthüllte und befreite das Bild und absorbierte einen Teil seiner Energie, um es, verdünnt und verlängert wie eine Essenz, auf der Haut sichtbar werden zu lassen. Der surrende Apparat in seiner Hand war dabei das geringste Mittel, nur eine Hilfe zur Übersetzung der Energie.
"Dieses hier will ich!" Er zuckte aus seinen Gedanken.Vor ihm stand die junge Frau und hielt ihm-surprise!- einen bunten Falter unter die Nase. "Auf der Hüfte?" Sie riss die Augen auf. "Sie sind wirklich gut! Und "True Colours" ist der Waaahnsinn! Meine Freundin hatte recht!" rief sie, eine Oktave höher, als angenehm gewesen wäre. "Macht 150 Euro und wir können gleich loslegen" knarzte er. Hierfür würde er sich nicht besonders anstrengen müssen, im Prinzip könnte er nebenbei seine längst fällige Steuererklärung machen.
"Uh-jetzt gleich? Ok, machen wir es, bevor mich der Mut verlässt." Sie kicherte nervös.
Kurze Zeit später lag sie seitlich vor ihm. Ihre Freundin, leicht blass, verdrückte sich derweil, "kein Blut sehen"-murmelnd in den Vorraum zu den Katalogen.
"Los geht es" brummte er und warf den Apparat an, um Tätigkeit vorzutäuschen. Er schloss die Augen, liess sein Bewusstsein in ihre Hautschichten sickern, durch die Gewebebahnen. Wie erwartet fand er genug zuckerige Lieblichkeit, gemischt mit einer gewissen Leichtigkeit, dass die Konturen des Motives schnell vor seinem "Auge" deutlich wurden. Er holte Luft- sie ebenfalls, etwas gepresster- und liess die Nadeln in ihre Haut gleiten.
Er griff nach dem Bild, sah genau hin und holte es an die Oberfläche. Eine Weile hörte man nur des surrenden Apparat und den einen oder anderen intensiven Atemzug.
Plötzlich stutzte er. etwas kippte, etwas stimmte nicht. Sein "Auge" war gegen etwas Fremdes gestossen, das er nicht erwartet hatte. Er spürte ein Zittern, ohne sich die Mühe zu machen, herauszufinden, von wem es kam, griff tiefer...bis er das Gewebe, eine feine dunkle Verästelung im glatten Pink, deutlich spürte. Er versuchte, die an schmierige, dunkelgrüne Algen erinnernden Fäden zu fassen. Die Masse wehrte sich und er fühlte ihre vernichtende Bösartigkeit, die ihr Territorium nicht aufgeben wollte.
Die Kundin wimmerte etwas, aber er spürte die Wichtigkeit, alles, bis auf den letzten schleimigen Schatten, zu erwischen. Die Nässe stand auf seiner Stirn, brannte hinter den getönten Gläsern in seinen geschlossenen Augen. Stück für Stück wickelte er die dünnen Fäden auf, absorbierte das Gewebe.
Einen Moment lang wurde ihm schwindelig und er kämpfte mit aller Energie gegen die Substanz und die Schwere an, die in ihm aufstieg.
Dann transformierte sich die bösartige Energie und floss als Farbe aus den Nadeln unter die Haut. Er spürte dankbar das Nachlassen des Druckes in ihm, das Entkrampfen der Muskeln, während sich das Bild füllte.
Schliesslich beendete er mit einem tiefen Atemzug seine Arbeit.
"Fertig" rief er rau in Richtung Vorraum.
Die Freundin nahte klappernd und gespannt- und er konnte fast hören, wie ihre Gesichtszüge entgleisten. "Was ist das??" quietschte sie, während sie auf das schwarz und dunkelbraun geflügelte Wesen starrte.
"Ein Mohrenkopf, gehört zu den Nachtfaltern" antwortete er trocken.
"Was", kreischte die Frischverzierte, "ich wollte einen Schmetterling! Jetzt habe ich eine verdammte Motte auf der Hüfte!?"
Ihre Stimme frass sich in seine Nervenbahnen und mit einer letzten Anstrengung griff er in ihr Bewusstsein. "Psyche unicolor" erklärte er cool, "jeder heisse Typ, der halbwegs bei Verstand ist, wird Sie unglaublich tiefgründig und unwiderstehlich finden".
Die Kundin zögerte. "Sie meinen wirklich, dass..." "Oh, sie werden sich vor Dates nicht mehr retten können." Dass sie sie auch geniessen kann, da er ihr eben die bösartige Geschwulst entfernt hat, verschwieg er.