Da ist sie... "True Colours 2" :grins: Seit ich das Wort Manticor in einem Hörspiel kennengelernt habe, wabert sie rum- nun ist sie draussen. Ich hoffe, sie gefällt euch Manticor
Der Schlüssel klapperte, als er die Tür aufstieß und seinen Laden, sein Leben betrat.
Die Nachmittagssonne strich über die Zeichnungen und Fotografien, die sich an den Wänden drängten und schimmerte auf den Liegen und alten Ledersesseln.
Er nahm seine übliche Runde vom Eingang durch den Wartebereich, vorbei an den Vitrinen, die die wertvollen Werkzeuge und ein paar Sammlerstücke beschützten, den Regalen mit Vorlagebüchern bis zur Kaffeemaschine. Es war recht spät, normalerweise wäre er schon seit ein paar Stunden am designen, verschönern, verzieren oder verschandeln, je nach Blickwinkel. Aber heute hatte er nur diesen einen Kunden, für den er wirklich ausgeruht sein wollte. Dieser Mann hatte sein ganzes Talent und seine volle Aufmerksamkeit verdient.
Er drückte mit zwei Fingern auf die Punkte an der Nasenwurzel, um seine Kopfschmerzen zu lindern. Sie waren seit geraumer Zeit seine treuen Begleiter, im günstigsten Fall nur ein sonores unterschwelliges Brummen, manchmal aber auch eine reißende grelle Kaskade.
Er kam meistens mit ihnen aus. Sie schienen einfach der Preis zu sein, den er für seine Gabe zahlen musste. Wer sich ständig den dunkelsten Geheimnissen und tiefsten Wünschen anderer aussetzt, um sie in Tinte zu transformieren und auf der äusseren Haut abzubilden, an dem bleibt immer etwas haften. Ein Blick hinter die falsche Tür, eine Spur zu düstere Finsternis... eines Tages würde er sich mit Dorian Gray auseinander setzen müssen.
Aber nicht heute. Er atmete tief ein und versuchte beim Ausatmen, sich etwas von der Spannung zu lösen. Ein Bourbon würde helfen, aber auch die Sicht vernebeln. Er atmete noch einmal durch und begann, seinen Arbeitsplatz vorzubereiten.
"Tag, Brüderchen!" Die Stimme schallte durch den Eingangsbereich.
"Komm rein, bin gleich soweit."
Wine kurzen Moment musterten sie sich, dann umarmten sie sich, den anderen in allen Facetten wahrnehmend.
Sie hätten nicht gegensätzlicher wirken können. Er, der hagere Tätowierer mit mal mehr, mal weniger Gestrüpp im Gesicht, das die dunkle Brille zu einem Großteil beherrschte. Künstler in seinem Fach, das das Image von Schmuddeligkeit und Bodensatz der Gesellschaft nie so ganz loszuwerden vermochte, egal, wie viele Violinisten, Banker und Politiker inzwischen gestochen waren.
Sein Bruder, eine Handbreit größer und mehrere Kilo schwerer dagegen mit dem glatten offenen Gesicht des Chefarztes strahlte Souveränität und seriöse Kompetenz aus Würde er ihn nicht kennen, er hätte ihn in die unterste Schublade, die man für die Arroganten und Dekadenten bereithält, gesteckt.
Ein Griff in das gepflegte Jackett und ein Röhrchen mit Tabletten kam zum Vorschein. Er grinste. "Oh, danke dir. Wie praktisch, dass unsere lieben Eltern dich damals auf die Uni geschickt haben."
"Wie praktisch, dass deine Kunst mir damals die Bücher bezahlt hat." kam es trocken zurück. "Unter Brüdern teilt man eben gerne"
In der Tat. Sie teilten. Ihr Erbe, ihre Begabung, jeder auf seine Weise,
"So, fertig, mach's dir bequem. Bist du dir jetzt wirklich wegen der richtigen Stelle sicher?"
"Ja, tob dich aus, mein Rücken gehört dir. Unter'm Kittel sieht es ja keiner, den es nichts angeht."
Die Liege ächzte, als sein Bruder sich auf ihr ausstreckte.
Er streifte die dünnen Handschuhe über und grinste bei dem Gedanken, dass in der Klinik wahrscheinlich die gleiche hochwertige Marke benutzt wurde. Seine Augen schlossen sich. Er liess seinen Geist durch die Haut seines Gegenübers sickern, durch die Gewebeschichten von Fett und Muskeln wandern. Wie angenehm, dabei nichts vortäuschen zu müssen, einfach ungestört seinem Instinkt folgen zu können. Sein Bruder würde ihn weder durch Nervosität zuschwallen, noch versuchen, die Dauer durch dumpfes Geplauder zu verkürzen.
Er irrte eine Weile umher, bis er fand, was er suchte. Die Energien, die Signaturen, die den seinen so ähnlich waren und sich doch so sehr unterschieden.
Während die Maschine in seiner Hand zu surren begann und über die Haut seines Bruders lief, tauchten vor seinem inneren Auge Bilder auf. Eindrücke entstanden, und auch Geräusche. Der Schläger. Die Gewissenlose. Die heimliche Mörderin. Der Typ mit Münchhausensyndrom. Der Vergewaltiger. Die gnadenlose Tyrannin. Sie alle hatten bei seinem Bruder, dem berühmten Chirurgen, auf dem Tisch gelegen, um sich Leberflecke zu entfernen, Kiefer richten oder Nasobialfalten glattbügeln zu lassen. Auch ein paar Unfallopfer waren dabei, denen ein paar Operationen das verbrannte Gesicht oder die zerstörte Hand wieder herstellte. Die meissten, das wusste er, würde er allerdings nicht finde, da sie ganz normale anständige Leute waren. Nein, diese Energien kamen von den heimlichen Kriminellen. Während er selbst die Gabe hatte, die geheimen Sehnsüchte und Wünsche seiner Kunden zu finden und in Bilder zu verwandeln, vermochte sein Bruder bei den Operationen versteckte Bosheit und Heimtücke aufzuspüren. Wo sein Kanal die Tätowiermaschine war, nutzte der Arzt das Skalpell, um unauffällig die gesammelten Energien zu konzentrieren und in bestimmte Organe oder Gewebe zu schicken. Dazu musste er nicht direkt das Ziel ansteuern. Als Mediziner waren ihm die Stoffwechsel und Zyklen vertraut genug, dass er nicht mal in die Nähe eines Herzens kommen musste, um -Wochen oder Monate später- dieses versagen zu lassen.
So nutzte er seine Gabe- oder vielmehr sie ihn. Er suchte sich weder die Opfer noch die Folgen aus, sondern ließ sich von seinem Erbe leiten. Mord? Sicher. Recht? Unwahrscheinlich. Gerechtigkeit? Nun, so schien es.
Aber die Bilder, die er bei seinen Wanderungen durch die Körper fand, das Wissen um die Verbrechen wie auch das im seinen Beitrag zum Tod der Täter liessen ihn nicht schlafen. Mehr als drei Stunden pro Nacht waren nicht drin. Sein Gewissen quälte ihn ebenso wie die Bilder der Taten. Darum lag er hier, darum sollte sein Bruder ihn mit einem Bild ,direkt aus seiner Seele, verschandeln. Oder auszeichnen, je nach Blickwinkel.
Ein paar Stiche und Stunden später legte der Tätowierer das Gerät beiseite und streifte die Handschuhe ab. "Fertig. Ich hoffe, Bruder, es gefällt dir. Komm mit rüber, da hinten haben wir ein paar Spiegel."
Der Arzt stellte sich neben den Tätowierer vor die reflektierende Fläche und betrachtete das Bild seines Rückens im gegenüber hängenden Spiegel. Kurz kreuzten sie ihre Blicke. Dann wanderten seine Augen über jeden Stich, jede Linie und Schattierung. Liebevoll betrachtete er das Monster, das nun auf seiner Haut prangte, mit aufgerissenem Maul, löwenartiger Mähne und messerscharfem Dorn auf dem Skorpionschwanz.
"Wunderbar! Das hätte ich mir nicht besser vorstellen können. Du bist ein Genie!" Er umarmte seinen Bruder, ihre Augen trafen sich erneut. Zwei Augenpaare, die Menschen gehörten, die zuviel gesehen, zuviel vollbracht haben. Voll vom Feuer der Gabe, aber auch erschöpft, mit den ersten Rändern der Asche. Sie drückten sich noch einmal.
"Wenn ich es eines Tages nicht mehr schaffe... wirst du mich dann operieren?"
"Sicher."